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1882. Progr. Nr. 327.
Suc^bruderet üon ©uftaö 53u6 in öagen.
1882.
Homer als Kenner der Natur und treuer Darsteller.
Herrn Professor Dr. G. F. Rettig in Bern.
Es soll zwar, mein hochverehrter und teurer Freund, nicht so ganz ungewöhnlich sein, dass
Philologen Abhandlungen, ja selbst dicke Bücher schreiben, welche mit der Überschrift oder dem Titel
nicht das geringste zu thun haben; wenn es nötig wäre. Dir ein Beispiel zu geben, so würde ich an jene
Lehrbücher der Metrik erinnern, die über nichts als über Gruppierungen langer und kurzer Silben handaln,
denen sie wissenschaftlich klingende Namen geben : doch aber magst Du Dich wundern, auch von mir eine
Schrift zu Gesicht zu bekommen, in welcher das Verhältnis nicht viel anders ist. So höre denn meine
Entschuldigung. Als ich mich dem Herrn Direktor unserer Doppel-Anstalt gegenüber bereit erklärte, ein
Programm zu schreiben, und als Titel den obigen angab : da befand ich mich in dem Glauben, dass etwa
10 oder 12 Quartblätter, auf welchen ich einige hundert Bemerkungen und Zitate über Homer niedergelegt
hatte, in meinen Händen wären. Aber diese ungewöhnliche Art des Schreibmaterials — denn zu meinen
bis jetzt erschienenen umfangreichen Werken hatte ich in einer Reihe von Jahren den Stoflf in gut gebun-
denen Folianten und Quartanten niedergelegt., und ähnlich habe ich es mit denjenigen Werken gemacht,
welche ich noch veröffentlichen könnte, wenn ich Lust hätte, wieder ein Dutzend Jahre täglich bis nachts
um 12 oder 1 zu arbeiten — , ich sage: diese unordentliche Art der Aufbewahrung hat den Verlust jener
Blätter bei meinem Umzüge von Wismar hierher nach sich gezogen. Ich würde nun, wollte ich vier
Wochen lang Homer zu dem Zwecke wieder durchlesen, ganz leicht das Material wieder herstellen können,
doch dies gehört eben auch zu meinen Eigentümlichkeiten, dass ich mich nicht überwinden kann, zum
Zwecke von Abhandlungen u. dgl. irgend etwas zu lesen : es muss mir bei dem Lesen der Schriftsteller
ganz von selbst ein Material erwachsen, indem ich mir aufzeichne, was das Verständnis zu fördern scheint.
Somit gebe ich denn, da ich den an der Zentralstelle bereits angezeigten Titel der Abhandlung
nicht mehr ändern kann, hier nur eine Sammlung von Betrachtungen über Homer, ohne gelehrten Schutt
hinzuzuhäufen. Denn, was Dir gegeben ist, auch in den kleinsten Abhandlungen, wie in Deinen Universi-
täts-Programmen, zugleich gelehrt und geistreich zu bleiben : dies würde ich mir, als eine mir fremde
Gabe, nicht aneignen können. Ich habe eben für die grösseren Werke ausschliesslich jene Materialien
geglaubt verwerten zu müssen, und dagegen auch in jenem Programme „zur Sprachgeschichte" einen rein
volkstümlichen Ton angeschlagen, und nicht gewusst, wie ich damit ein grösseres gelehrtes Material
vereinen könnte.
Möge aber dieser kleine flüchtige Versuch doch nicht ganz Deines Beifalles entbehren, der mich
für manche schwere Benachteiligung zu trösten pflegt! Ich will nur ein par Gedanken über Homer aus-
sprechen, und dazu fast nur einige Stellen namentlich aus meiner griechischen Synonymik zitieren, welche
zeigen sollen, wie dies Buch zum Verständnis des grössten aller Dichter anzuwenden sei.
1.
Das ganze Altertum kannte Homer als den grossen und genialen Dichter, der in zwei fast gleich
hoch stehenden Epen nicht nur die heroische Zeit lebendig und treu geschildert hatte, sondern in eben
denselben grossen Gedichten die unübertroffenen Muster vollendeter Einheiten gegeben hatte. Ebenso
erkannte man ihn als den treuen Schilderer der Natur und den vollendetsten Menschenkenner.
Nan entsteht die Frage, wie es in der Neuzeit möglich war, dass man in jenen Gedichten nichts
als lockere Konglomerate arsprtlnglich fflr sich bestehender Teile and Teilchen erkannte and den grossen
Dichter ganz vergass, ja ihn fttr ein märchenhaftes Wesen, welches nie lebte, erklärte?
Dass jene von F. A. Wolff aasgegangene Liedertheorie aaf lauter ScheingrOnden sich stützt,
ist in neuerer Zeit so glänzend und schlagend bewiesen worden, dass nur diejenigen, welche aas freien
Stocken ihre Augen zuschliessen, dies nicht anerkennen können. Denn, um nur an einige der vorztlg-
lichsten Leistungen unserer Zeit za erinnern : so hat zuerst E. Kammer in seinem schönen Buche «d i e
Einheit der Odyssee" gezeigt, dass jene künstlichen Zerlegungen der Lachmannschen Schule, wo man
die Taschenuhr vor Angen den genialen Dichter auf die Genauigkeit seiner Zeitangaben u. dgl. in dem
grossen Märchen von der Heimkehr des Odysseus prüft, auf gänzlicher Yerkennung des Wesens einer
epischen Dichtung beruhen. Es hat sodann A. Römer jedem Urteilsfähigen die Angen geöffnet über jene
barbarische „Peppmüllerei", nach welcher ein so kostbares Buch wie das vierandzwanzigste der Iliade, in
welcher der Dichter uns bis in innerster Seele ergreift, aus lauter kleinen Versflicken und Fetzen
künstlich zusammengestückt sein soll. Denn dass jede menschliche Hede und Daretellung aus einzelnen
Worten und Redewendungen besteht, wollte man nicht beweisen : sondern man dachte an einen kläglichen
Versmacher, der aus lauter anderswoher entlehnten Versstücken den herrlichen Gesang zusammenkleisterte.
Und wenn noch irgend ein Beweis vermisst wurde, so hat ihn R. V o 1 k m a n n in seinem herrlichen Buche
„Geschichte und Kritik der Wolffschen Prolegomena" gegeben. Aber die Waffen des Geistes genügten
durchaus nicht, die Ehre des Dichters wieder herzustellen, da eine redegewandte Sophistik überall mit
Scheingründen abzuwehren wusste, und leider so wenige das Altertum aus wirklich innerer Neigung heraus
studieren, und jetzt mehr Grammatik und Etymologie getrieben wird, als dass man sich in den Geist der
grossen Schriftsteller und ihrer grossen Zeit versenkt. Es musste ein Mann wie Heinr. Schliemann
erst jene Phantastereien zerstören, indem er an den klassischen Orten mit Schaufel und Spaten dasjenige Ver-
ständnis eröffnete, welches den Stubengelehrten leider ganz abhanden gekommen scheint. Und wenn man auch noch
hie und da sich nicht entblödet, den grossen Forscher anzugreifen, welcher der Eitelkeit so vieler Geister
dritten und vierten Ranges im Wege steht; gerade wie man noch immer ängstlich bemüht ist, von stuben-
philologischer Seite, durch völlige Nicht-Erwähnung die naturgeschichtlichen und geographischen Forschungen
eines Ernst von Bär, durch welche der Schauplatz der Odyssee sich vollkommen aufgehellt hat und
auch auf diesem Gebiete dem Dichter seine Einheit zurückgegeben ist : so viel ist dennoch gewiss, die
sonnenklaren Thatsacben, welche jene Forscher geliefert haben, werden dem heranwachsenden Geschlechte
nicht mehr verborgen gehalten werden können, und sie werden endlich einen grossen Umschwung in unserer
Anschauung erzeugen.
2.
Aber doch ist es ganz natürlich, dass in jetziger Zeit Homer der grossen Mehrzahl derer, welche
ihn lesen oder lesein — man verzeihe eine Neubildung, die sehr bezeichnend sein würde — als ein loses
Trümmerwerk erscheinen muss.
Da ist zunächt ein äusserer Grund: die Art wie unsere Ausgaben Homers
gedruckt sind. Ich denke irgendwo in den „Wissenschaftlichen Monatsheften" eine Vorstellung von
der Kompositions-Art Homers gegeben zu haben. Möge eine kurze Hindeutung über den Gegenstand
hier genügen.
Betrachten wir nämlich jene Gesänge, aus denen z. B. die Iliade zusammengesetzt ist: so finden
wir in ihnen vollendete Einheiten, eine natürlich entwickelte und in allen ihren Teilen wohlbegründete
(motivierte) Handlang, die wie ein einzelnes Drama kunstgerecht in sich abgerundet ist, und deshalb auch
unsere Aufmerksamkeit und gemütliche Teilnahme von Anfang an fesselt und am Schlüsse in herrlichster
Weise befriedigt. Freilich, wir fühlen doch wieder, dass neue Ereignisse sich anreihen müssen, um
manchen neu geschürzten Knoten zu lösen, gerade wie der Dichter des Gesanges schon an dessen Anfange
voraussetzt, dass wir mit dem Inhalt der vorhergehenden Gesänge bekannt sind. Denn alle jene Gesänge
hängen so innig anter einander zusammen, dass die ganze Iliade doch eine Einheit ist, wie nie eine zweite
wird gedichtet werden : so innig nnd fest, so unübertrefflich vom Anfange bis zum Schlüsse hin entwickelt.
Wer einmal mit Gefühl und Verständnis gelesen hat, der wird mich verstehn. Aber ein Beispiel möge
die Sache erläutern.
"Wenn man die „Heldenthaten des Diomedes" (sogenanntes 5. Buch) liest, so kann einem nicht
entgehen, wie gerade die Thaten der übrigen Helden den lichten Untergrund für die des Diomedes bilden
müssen, und wie die Handlung immer mehr gesteigert wird, bis wir durch den milden, fast heiteren Schiuss
des Gesanges, nämlich durch jene Szene im Himmel, in die richtige Stimmung versetzt werden, um jenes
schöne Familienbild voll empfinden zu können, welches uns in dem folgenden Gesänge, genannt «Zusammen-
kunft des Hektor und der Andromache" entfaltet wird. Und der erste Teil wiederum dieses Gesanges
bildet eine Vorbereitung, sinniger und schöner , wie sie gar nicht gedacht werden kann. Ich meine zuerst
die Szene zwischen Diomedes und dem Glaukos, durch welche wir dem bisherigen Kriegstumulte entrückt
werden und zu einer ruhigen Stimmung und inneren Sammlung gelangen. Dann aber folgt erst die Szene
im Hause des Paris, wo der üppige, fast orientalische Königssohn, zwar auch unter Umständen ein tapferer
Streiter, aber unzuverlässig in seinem ganzen Wesen, ein unübertreffliches Gegenbild zu dem idealen Hektor
bildet. Sein eigenes, geraubtes Weib achtet ihn nur gering, blickt aber mit höchster Verehrung za dem
Vorbilde aller Verteidiger des Vaterlandes, zu Hektor empor. Und nach dieser Szene erst tritt Hektor
in sein eigenes Haus, empfangen von einem ihn zärtlich und eben so hoch verehrenden Weibe, und er, der
schreckliche Krieger, ist zugleich der sanfte Gatte und Vater, der das kleine Büblein auf dem Arme wiegt,
nachdem er den schrecklichen Helm abgelegt. Welche herrliche Entgegenstellung, und wie menschlich
schön empfunden und mit vollster Seelenkenntnis gezeichnet. Wir erblicken da zwei Familien wie sie
immer sein werden, so lange es Menschen gibt. In der einen gibt's nur gegenseitige Liebe, da der Mann
das Muster treuster Pflichterfüllung ist, und zugleich der unübertroffene Held, der jedem Achtung abzwingt,
und zumal dem weiblichen Geschlechte, welches ein so .feines Gefühl hierfür hat. Im anderen Hause
herrscht das Weib über einen Mann, der diese Knechtschaft verdient. — Aber, ich komme von der Sache
ab: Wie diese zwei Gesänge jeder für sich eine herrliche Einheit ist, und doch beide auf das innigste
zusammengehören, indem der erste zugleich als Vorbereitung auf den zweiten erscheint: so unübertrefflich
schön ist die ganze Iliade gegliedert.
Aber auch die grossen Gesänge bestehn wieder aus kleineren wohl in sich abgerundeten Einheiten,
welche man als die S z e n e n der erwähnten kleineren Dramen betrachten kann. So ist z. B. in dem
„Diomedesgesang" die Partie II. 5, 35—83 eine prächtig gegliederte Ballade; nur dass man nicht sich
allen Genuss verderben darf, indem man gleiche Verszahlen für die Strophen (die ja nicht in bestimmter
Melodie gesungen wurden) herauszuklauben sucht. Die Schlüsse jener Strophen haben ganz die Eigentüm-
lichkeit der Refrains und bringen daher ungemeines Leben in das Ganze. Ich meine
rifiiKt 8' ii hyiuiv, otUY^pö? 8' apa /iiv axöto; eiXsv. —
YjptTts 3J: jcprjVYjC, öcpdßTjOe Se t£U)(s' sjt' aötü). —
fwi 8' eptrt' o'.jxwlac, ^ävato; 3e ja'.v ä/i'fsxdtXu'^EV. —
Tjp'.ite o' £v xovi-jj, '^oj^pöv 3' iXe joikv-bv öSoöotv. —
eXXaßs Tcop'^'jpEoi; ^dcvaxoi; xai jAOIpa xpatai-rj. —
Ueber die Bedeutung solcher Schlüsse in griechischen Gedichten kann man alle Aufklärung aus dem vierten
Bande meiner Kunstformen, Seite 603 u. f. erhalten.
Nun also, wie sind diese Verhältnisse in unsem Textausgaben ausgedrückt? Man hat die ganze
Iliade in 24 Bücher zerlegt, und drückt jedes dieser Bücher als einen Brei fort, nur hin und wieder
einen Vers einrückend, um eben auch die kleinen Bruchstücke der Grütze kenntlich zu machen. Und ein
sehr grosser Teil dieser Einrückungen ist obendrein, einer beliebten aber jammerschlechten Schablone zu
Liebe, an ganz falschen Stellen. Kann man nun mit Gefühl und Verständnis lesen? Nein, und tausendmal
nein! Wenn man Schillers Teil oder irgend ein anderes Drama so drucken wollte, mit fortlaufenden Versen,
ohne irgend eine Unterscheidung der Akte and Szenen : so würde niemand sie mit Genoss and Verständnis
lesen können, da man eben nicht beim Lesen die nötigen Rahepankte and Übersichtspankte gewinnen
könnte. Mit einem Worte: man würde aach hier za einer Stubengelehrten Empfindungslosigkeit gelangen.
Es ist doch ein Jammer, dass man nicht aufhört Kommentare za schreiben and gelehrte
Forschungen zu veröffentlichen, ohne an jenes Haupterfordernis zu denken. So bin ich auch hier in der
Lage gewesen, um selbst den Homer innerlich empfinden zu lernen — denn mit grammatischen Formeln
and etymologischen Aufstellungen ist blutwenig gewonnen — zunächst an eine Abschrift der Iliade zu gehn.
Da stehn nun jene Gesänge als die grossen Akte, jeder mit voller Seite beginnend, jeder durch einen roten
grossen Anfangsbuchstaben geschmückt; und jede Szene beginnt mit einem Zwischenraum von gegen zwei
Zeilen und hat ihren grossen dicken schwarzen Anfangsbuchstaben. Und wenn ich beliebig blättere, so
kann ich jede leicht kennbare Szene als ein schönes Ganze für sich lesen, und so vordringen bis zum Ver-
ständnis der grösseren Einheiten und schliesslich der ganzen Einheit.
Das nun ist ohne irgend eine auflösende Kritik. Aber würde irgend ein Verleger ein solches
Buch drucken? Ich denke nicht daran, es anzubieten. Denn das Buch soll ja nur den höchsten Genuss,
das höchste Verständnis eines grossen Dichters geben, und keine neuen Etymologien und grammatischen
Kleinigkeiten und Spitzfindigkeiten.
3.
Der innere Grund für jene Theorien ist offenbar.
Unsere Zeit ist eine auflösende und zergliedernde, die immer mehr das Verständnis für die grossen
Einheiten verloren hat. Denken wir nur an die naturgeschichtliche Philosophie, die von ganz materiellen
Grundlagen aufgebaut wird. Es ist da sehr viele Wahrscheinlichkeit, ja oft auch Offensichtlicbkeit. Wer
sollte nicht mit Bewunderung erfüllt werden für die Fortschritte der Sternkuade, der Naturkunde, Chemie,
Geognosie, Geologie ? Aber wie steht es mit den Schlussfolgerungen, welche die ganz materialistischen
Forscher ziehn? Sie sind aufgebaut auf unendlichen Reihen von Thatsachen — mit gänzlicher Weglassung
alles dessen was den Herrn nicht in ihren Kram passt; und diese Thatsachen sind von einem durchaus
einseitigen Standpunkt aus gewonnen.
Nun ist es z. ß. ganz richtig, dass der menschliche Körper aus Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff,
Wasserstoff, Kalk, Eisen u. s. w. aufgebaut ist. Aber ist das nicht auch ein Haufen Mist? Wer den
Menschen als Atome und Zellen auffasst, sagt ja nichts Falsches, aber er sagt etwas, was mit der Sache
gar nichts zu thun hat. Und manche der scharf ausgebildeten Systeme, z. B. das von G. Jäger, in welchem
die menschliche Seele lediglich als ein Riechstoff aufgefasst wird, sind der grösste Blödsinn, der je von
einem Menschen ausgesprochen ist. Ebenso steht es mit jenen fanatischen „Forschungen" Büchners, in
denen er z. B., wie in seinem Werke über das Tierleben den Gedanken verficht, dass die Ameisen gar zu
viel klüger und gar zu viel moralischer seien als die Menschen. Und noch viel mehr, jene Unglück-
seligen, welche Gott aus der Welt leugnen, setzen an seine Stelle eine gradezu endlose Reihe völlig
undenkbarer Hypothesen. "
Mit solchen Anschauungen nun, denn angesteckt sind wir alle mehr oder weniger von der zer-
setzenden materialistischen Philosophie der Jetztzeit, treten wir an das „Studium" des grossen Dichters
hinan. Da suchen wir die Zellen, ja die Atome, woraus der Körper seiner grossen Gedichte besteht, —
und finden natürlich dieselben kleinen Bröckel, aus denen jedes menschliche Geistesprodukt besteht oder
zu bestehen scheint, während wir das Ganze nicht finden können. Wir sehen eben den Wald vor lauter
Bäumen nicht.
Selbst K. L e h r s konnte sich von diesen Anschauungen nicht frei machen ; ja, als ich einmal
in einer Abhandlung auf Homer als den bestimmten Schriftsteller zu sprechen kam, da zeigte er in
einem seiner immer so liebenswürdigen Briefe sich fast betrübt, dass „auch ich" an einen schreibenden
Homer dächte. Und so auch schrieb mir G. F. R e 1 1 i g , der geniale Erforscher namentlich der sokratischen
Philosophie, noch kürzlich; ^Deinem Homerprogramme sehe ich mit Spannung entgegen; es hat auch mich
Mühe gekostet, mich aus der zersetzenden Kritik herauszuarbeiten Wenn Euphorbos und Hektor
den Patroklos töten, ist das in ainem Märchen so auffallend? Wenn es nur erstaunlich und schön ist und
den Leser fesselt, so fragt der in dem märchenhaften Epos nicht lange, ist das Erzählte auch dem Ver-
stände gemäss, sondern er gibt sich, gleichsam in eine andere Welt versetzt, ganz der Erzählung hin, und
geniesst ihre Wunder,"
Alle jene Einzelheiten, womit die Zerbiöckler Homers ihre Annahmen stützen wollen zeugen
für nichts als für eine ganz merkwürdige moderne Befangenheit und für eine wunderbare Unkenntnis der
offenbarsten Thatsachen. Ich will nur einige Punkte herausgreifen, welche in den oben genannten Werken
nicht erledigt sind, die aber ganz in dem Gebiete meiner Forschungen liegen.
Man spricht ron der Buntscheckigkeit der Homerischen Sprache und den ganz verschiedenen
Formen, welche auf weit auseinanderliegende Zeitalter zu deuten scheinen. — Da ist zuerst das Digamma,
das bald erscheint, bald iu demselben Worte fehlt. Hätte irgend einer der Gelehrten, welche Langes und
Breites hierüber geschrieben haben, sich einmal sorgfältig prüfend die Pindarischen Gesänge angesehn, so
hätte er in diesen Erscheinungen jene Gesetze des Wohllauts erkennen müssen, die ich im vierten Bande
meiner Kunstformen unwiderleglich nachgewiesen habe. Nicht einmal die modernen Sprachen haben jene
Einförmigkeit der Aussprache, wie sehr auch die Schulmeister seit Jahrhunderten sich bemüht haben sie
herzustellen. Man denke nur an die so verschiedene Aussprache französischer Wörter am Ende, je nach-
dem ein Vokal oder Konsonant folgt.
Aber weiter. Die gänzlich modern-deutsche Aussprache, womit wir die griechische Sprache miss-
handeln, stellt lediglich in unserer Schulpraxis und unserm eigenen Vortrage schneidende Unterschiede her,
welche es gar nicht in der alten Sprache gibt.
Ich will nur an eine Einzelheit erinnern, die Aussprache der Diphthonge. Im mustergültigen
Hochdeutschen giebt es nur drei Doppellauter, nämlich au, ay, ai. Aber statt ay (d. h. aü) schreiben wir
fälschlich eu oder äu, z. B. heute, Bäume, ausgesprochen hayte, bayme. Ebenso schreiben wir für ai in
den meisten Fällen ganz falsch ei, z. ß. in den Wörtern ein, zwei, drei, gesprochen: ain, tsvai, drai.
Und nun höre man genau zu! Weil wir also das Neuhochdeutsche ganz falsch schreiben, nämlich
ungefähr so wie es vor 500 Jahren gesprochen wurde: deshalb glauben wir das Altgriechische nach der
jetzigen hochdeutschen ganz falschen Schreibweise aussprechen zu müssen?? Wir sprechen also das Wort
EUfpwv — das ich mit Fleiss ohne weitere Abzeichen hier schreibe — bei Homer bald ay-fron, bald
e-y-fron aus. Ja freilich, das kann ja gar kein Dichter mehr sein, der ein Wort so misshandelt, um nur
einen Vers fertig zu bringen: also müssen solche Verse mit grundverschiedener Aussprache auch verschie-
denen Zeitaltern angehören ! Denn könnte wohl ein deutscher Dichter bald hay-te, bald he-u-ie aussprechen,
je nachdem es in den Vers passte? Aber freilich was steht denn bei Homer? Das eine Mal euifptuv, d, h
e-y-fron dreisilbig; das andere Mal cu^piuv, d. h. ey-pWön zweisilbig; wenn man den Diphthong also so
spricht wie er geschrieben wird, d, h, ihn aus der schnellen Zusammensprache von e und // (d. h. m) her-
vorgehn lässt : so wird man finden, dass ein kaum zu bemerkender Unterschied zwischen beiden Aussprachen
herrscht. Und so in allen andern Fällen: wir legen durch die grundfalsche und ganz unwissenschaftliche
Aussprache, die wir leider von der Universität mitbringen, und wohl auch unsererseits wieder der armen
Jugend künstlich einpauken, jene tollen Unterschiede hinein, die nirgends im Texte geschrieben stehn, die
uns dann aber wieder das Bild des Dichters verdunkeln und in eine Menge undeutlicher Flecke auflösen.
Und soll ich noch von der grundfalschen Aussprache der griechischen Akzente sprechen, die ihrer-
seits wieder eine Menge unlösbarer Rätsel erzeugt? Und ein Philologe, der die ideale Kenntnis der antiken
Welt zu seinem Ziel erwählen sollte, um durch sie der modernen Zerfahrenheit entgegentreten zu können,
sollte nicht die Mühe auf sich nehmen wollen, diejenige Aussprache derselben (die den Namen „Beigesang,"
da0 heisst npoouidta oder accentus, hatten aod als höhere and tiefere and doppelte Noten schon durch
ihre Namen onterschieden werden), also diejenige Aassprache derselben sich anzaeignen, welche einstimmig
▼on allen alten Schriftstellern anerkannt wird, welche namentlich genaa von Dionysios von Halikarnass
bestimmt wird; welche ferner an Stelle ganz begriffloser Namen reine and klare Vorstellangen giebt, die
scheinbaren and angehearen Unterschiede zwischen der Prosa and Poesie vollkommen aufhebt, und dem
Schüler eine ungeheure Menge Arbeit erspart und zugleich seinen Kopf aufbellt, nicht aber seine Begriffe
verdunkelt?
5.
Aber wir wollen auch hiervon einmal absehn. Wodurch ganz besonders ist der grosse Dichter
dem Verständnis der modernen Gelehrten entrückt? Durch die über die Massen schlechten Wörter-
bücher, welche wir für das Griechische überhaupt, und so namentlich auch für Homer besitzen. Homer,
der stets so naturtreu zeichnet, dass er überall die eigene lebendige Anschauung, das offene Auge, das
feinste Gehör, die schärfste Beobachtungsgabe verrät: eben derselbe Homer wird zu einem elenden Phrasen-
drescher darch unsere Wörterbücher gestempelt. Und hier will ich denn das Geständnis ablegen, dass ich
meine grosse griechische Synonymik geschrieben habe, weil mir das Herz blutete ob dieser Misshandlung
des grössten aller Dichter. Und ich würde wohl noch manchen Band in Bereitschaft haben, wenn ich noch
weiter Leben und Gesundheit durch so ungeheure Anstrengangen, welche neben einem an sich schon
schweren Schalberufe zu ertragen wären, in Gefahr bringen wollte.
Da hat z. B. die neue Zeit eine eigentümliche Farbentheorie aufgestellt, und man hat sich ver-
messen, auszusprechen, ja sogar scheinbar zu beweisen, dass Homer oder die Menschen seiner Zeit allesamt
farbenblind waren. Diese wegen ihrer Scharfsinnigkeit und Findigkeit angestaunten Philosophen haben die
aller-einfachsten Beobachtungen versäumt, durch welche ich z. B. festgestellt habe, dass vier Wochen alte
Küchlein jede Farbe ganz genau unterscheiden. Und so muss denn der Urmensch nicht bloss Orang-Utang
sein: nein, er muss viel dummer, viel stumpfsinniger als junge Hühner, als Bienen, Spinnen oder beliebige
andere Tiere sein! Ja freilich, das ist Stubentheorie.
Denn zunächst haben jene Menschen ein Hauptgesetz in der Entwicklang aller sprachlichen Be-
deutungen nicht gekannt : nämlich der Mensch ist immer bemüht, Begriffe malerisch
darzustellen, indem er übertreibende Bilder wählt; und in der weiteren Ent-
wicklung der Sprache können diese Ausdrücke dann die ganz gewöhnlichen
werden. So nennen wir z. B. das hellbraune Haar rotes Haar, obgleich es wahrlich ein ganz erstaun-
liches sicher noch nie dagewesenes Wunder sein würde, wenn ein Mensch die Farbe einer frisch auf-
gebrochenen Rose (denn das ist die wirkliche rote Farbe) in seinem Haare zeigen würde. Nun hat aach
Homer es ganz genau eben so gemacht wie wir, er hat z. B. das Haar xuäveoc, d. b. stahlfarbig genannt.
Das soll nun mit einem Male ein Beweis sein, dass er blau und schwarz nicht unterscheiden konnte? Und
wenn wir das Haar ebenso falsch „rot" nennen, so zieht man auf unsern Farbensinn nicht dieselben
Schlüsse? „Ja Bauer, das ist ganz was anders." — Nein, Homer war ein Mensch wie jeder Chinese, Neger
und Indianer es auch ist, und ihm die menschliche Erkenntnis schlechthin abzusprechen, zeugt gerade nicht
von gut logischer Denkungsart!
Aber so ist nun jenes ekelhafte Gewirr in unsern Wörterbüchern hinsichtlich der Farbenausdrücke,
das ich im dritten Bande der griech. Synonymik habe aufzulösen versucht. Aber ich will doch noch ein-
zelne Gesichtspunkte erwähnen. Man übersetzt also itoXi-rjv SX« tutctov IpexiioU mit „sie schlagen das
graue Meer mit den Rudern." Und als Bedeutung von koX-.o? giebt man überall „grau" an! Und doch
hat das Wort auch in keiner einzigen Stelle jemals die im Wörterbach angegebene Bedeutung gehabt.
Homer also drischt Phrasen, weil man seine Sprache nicht kennt, nicht einmal die gewöhnlichsten Wörter!
Denn nie werden graue Gegenstände im Griechischen noXio? genannt, wie z. B. die Asche, die Maus,
der Kranich !
Und so werden die gewöhnlichsten Wörter jetzt erst recht mit falschen Bedeatongen aog^beOf
seit die Etymologie alle Köpfe erfüllt, eine Wissenschaft, die wahrlich noch erst ganz anders za begrOnden
wäre aaf der Kenntnis der Anscbaaang der alten Völker, der geschichtlichen Entwicklang der Bedeatongen
a. s. w. Nan aber, wenn die Bachstaben stimmen, ist man bereits fertig, w&hrend da erst das Stadiam
angebn sollte; and leider geben persische, sanskritische, armenische a. s. w. Zitate da immer den Schein
der Wissenschaftlicbkeit, während doch noch nicht eine einzige Sprache wissenschaftlich ergründet ist, nach
den Forderungen, die ich in meiner Synonymik aafgestellt habe. Ich habe solche F&lle in dem erwähnten
Werke zahlreich nachgewiesen, and man wird z. B. bei atYiXi4' eine Probe finden, wohin dies ganz
äasserliche Probieren führt.
Manche falsche Auffassungen kommen freilich bereits aaf die klassische Zeit, ich meine die des
Piaton zarück. So z. B. wenn man schon damals 'poSoSaxxuXo; 'Hu»; als die „rosenfingrige Morgenröte"
aaffasste. Aber Homer hat ebensowenig eine so wahnsinnige Vorstellang von der Gestalt der Götter, wie
die späteren Griechen. Diese haben bei ihm darchaas eine ideal-mensehliche Gestalt, and Sophokles arteilte
in jener heiteren Unterhaitang bei einem Gastmale in Chios ganz richtig, dass ein Maler, der die Finger
mit rosenroter Farbe gemalt hätte, nar hätte einen Parparfärber abbilden können. Und nan gar, wie
wahnsinnig, sich za denken, dass die schönen roten streifenförmig gelagerten Wolken am Ilimmel die un-
gehearen Finger der Eos gewesen wären! Ich brauche wohl kaum daran zu erinnern, dass auch dann
wenn man nicht an die ursprüngliche Bedeutung des zur Wurzel AlK, Setxvufic gehörenden SdcxtuXoc
denkt (eine Auffassung, die übrigens durch ein Bruchstück des Alkaios eine merkwürdige Bestätigung
erhält) : also auch in diesem Falle 'poSoSäxtuXo; nur mit plastischer Lebendigkeit „Rosen zeigend", d. h. Rosen
zur Erscheinung bringend, heissen kann. Es ist also die Göttin, welche „den Himmel mit Rosen besät''.
Aber ich spreche von einzelnen Ausdrücken; ganze Schilderungen und lang fortgeführte Dar-
stellungen sind völlig sinnlos durch die Angaben unserer Wörterbücher. Ich habe dies z. B. in der Syno-
nymik gezeigt bei jenen Wörtern, welche die Wörterbücher alle gleichmässig falsch übersetzen durch
klagen, jammern, wimmern, stöhnen, wehklagen u. s. w. Wenn man nun die herrliche Schilderung Homers
liest, wie auf den Achill eus die Nachricht vom Tode des Patroklos wirkt, und man vermöge der Wörter-
bücher aus diesem jämmerlichen Gewimmer und Geklage nicht herauskommt, nirgend aber die wahren
Bedeutungen der Wörter findet: so muss man den Dichter für einen jämmerlichen Versflicker halten, und
kann kaum zu einer Ahnung kommen, wie wundervoll ergreifend, ja die innerste Seele ergreifend, und wie
naturtreu Homer jene Szenen dargestellt hat. Gegen einen solchen Dichterling verliert man denn auch
alle Achtung, und mit seinen Schöpfungen denkt man ganz beliebig spielen zu können.
Denn hier erlaube ich mir die Frage: Haben denn jene Zerstückler Homers auch nur den Sinn
einer einzigen Stelle wirklich erhellt, indem sie auf wissenschaftlichsm Wege die Entwicklung der Wort-
bedeutungen, auf denen doch das ganze Verständnis zuletzt immer beruht, und diese selbst erschlossen?
Ist aber das nicht eine dankbarere Aufgabe, als den lebendigen Leib durch tausend schmerzhafte Schnitte
zu zerstören?
6.
Und nun, in einzelnen Beispielen denke ich doch hinreichend deutlich gemacht zu haben, inwiefern
Homer ein Kenner der Natur und treuer Darsteller war. Er war es, insofern er auf die Seele des Hörers
zu wirken verstand wie kein anderer, sie von Anfang an fesselnd, die lebhaftesten Gefühle in ihr erweckend^
und in der Gliederung des Ganzen seiner Epen die schönste befriedigende Einheit festhaltend, so dass die
Seele die herrlichste Befriedigung darin finden muss. Denn dieses kann nur ein wahrer Menschenkenner,
und es kann ebensowenig wie irgend etwas anderes aus der „Kraft des Unbewnssten" kommen. Er war
es ferner, insofern er eine vollendet natürliche Sprache redete, in dw nichts Blindes und Unverständliches,
nichts Abgeschmacktes und Verkehrtes aufzufinden ist. Auch die Formen wählte er wirksam and schön,
und also ganz ihrem Zwecke angepasst, so dass nur die gänzlich falsche Aussprache der modernen Völker
8
(von denen die modernen Griechen beinahe noch am erträglichsten aassprechen) diese Verhältnisse ver-
dankein kann.
Und nan will ich noch einen Punkt erwähnen, nämlich die 6 1 e i c h n i s s e. Sie sind vom Alter-
tnme her berühmt, weil sie erstens den genauen Naturkenner zeigen, der z, B. die Tiere genau so zeichnet,
wie sie sind^ und ebenso anschauliche Darstellungen von den übrigen Erscheinungen der Natur, wie nament-
lich den meteorologischen Vorgängen giebt; zweitens aber immer Szenerien angeben, die innerlich wahr
sind, und so anschaulich und klar, dass sie die packendsten Gemälde schon ohne den Pinsel des Malers
Bind. Ich will dies durch ein Beispiel erläutern.
U. 11,471. Den Odysseus umdrängen die Trojaner wie Schakale um einen hochgehörnten Hirsch
sich scharen, der im Waldgebirge verwundet ist; da erscheint plötzlich ein Löwe, und die Schakale fahren
auseinander, jener aber zerreisst mit seinen Tatzen das edle Wild. So «"scheint nun Aias, und es zer-
stieben die Trojaner. Man bemerke hier, wie auch sonst die Gleichnisse Homers sind: keine fortgesetzten
Parallelen, sondern Übereinstimmungen nur in einzelnen Punkten, aber den wichtigsten Doch ganz genau
ist das Wesen, die Lebensart der Tiere gezeichnet, eine Szene ist gegeben, wie sie gewiss hin und wieder
ganz ähnlich beobachtet wurde. Und nun das Malerische der ganzen Darstellung. Warum hat nicht ein
Maler sich diese prachtvolle Idee angeeignet? In der Mitte der rings von hohen Bäumen beschatteten
(oxtepö?), Waldschlucht der zusammenbrechende Körper eines Hirsches, mit hochragendem Geweih (xspaö;);
darum gruppiert die gierig schleckernden Brandwölfe, denen zu allgemeinem Schrecken die riesige Gestalt
des Löwen auf den Leib rückt, so dass sie, noch gieiig dabei zum Aase zurückblickend, scheu sich duckend
auseinander stieben! — Und eben so schön könnte wiederum das andere Gemälde werden, wo die Trojaner
von der Heldengestalt des Odysseus scheu zurückweichen, als Aias, der hünenhafte Recke, plötzlich erscheint.
So eben sind sämtliche Gleichnisse Homers, den Kenner der Natur und den geschickten Maler
sozusagen zu gleicher Zeit zeigend. Wenn wir aber hiermit manche der gefeiertsten modernen Dichter
vergleichen, so fällt dieser Vergleich sehr kläglich aus. So wenn Freiligrath „Mähnen durch die Büsche
flattern" lässt, und nicht ahnt, dass der Leopard ein mähnenloses Tier ist ; oder wenn von den ungeheuren
Fleischstücken gesprochen wird, welche eine Riesenschlange einem Tieger herausreisst, während doch
bekannt genug ist, dass Schlangen gar keine Zähne zum Abbeissen haben. Und diese Unkenntnis der Natur
geht bis in unsere Fabeldicbtungen hinein. Man kann da bei Babrios das feinste Verständnis des Charakters
der einzelnen Tiere nachweisen; und wenn ihnen die menschliche Sprache gegeben wird, so heisst das nur,
die Art der tierischen Mitteilung ist in die menschliche Sprache übersetzt. So wohnt denn jenen
kleinen humoristischen Erzählungen ein eigentümlicher Reiz inne. Aber wie verkehrt da auch wieder die
neueren Dichter, bei denen sich z. B. „Ochs und Esel beim Spaziergang stritten um die Wette, wer die
meiste Weisheit hätte", und so sehr gewöhnlich die Tiere nicht eingeführt werden in dem ihnen eigentüm-
lichen Wesen. Und nun gar erst, wollte man die läppischen Phantasien so vieler moderner Dichter — denen
im klassischen Altertume nichts zur Seite steht — durch Bilder festhalten: wie oft würde man auf reine
Unmöglichkeiten stossen, wie oft auch den reinen Blödsinn, wenn nicht etwas schlimmeres erhalten. Wenn
Heine z. B. behauptet, er habe so oft die steinernen Stiege geküsst, die „ihr" Fuss betreten habe : so denke
man sich doch nur einmal einen Mann abgebildet, wie er an der Strasse steinerne Tritten küsst! Oder
man denke an denselben Heine, wie er die heisse Stirn im nassen Sande des Nordseestrandes kühlt. Fordert
das nicht geradezu auf, mit einem Rohrstockstreiche den Menschen zur Besinnung zu bringen, oder mit
einem Eimer Wasser? Und nun gar, wenn Heine abgebildet wird, wie er Liebeseier brütet und die schon aus-
gebrochenen Küchlein um ihn herum pipen: gäbe das etwas anderes als ein Bild zu den „Musenklängen
aus Deutschlands Leierkasten?"
Das aber soll unsere Jugend auf dem Gymnasium lernen, die grossen Geister des Altertums zu
verstehen, in ihre unübertrefflichen Werke sich zu vertiefen, um gegenüber moderner Zerfahrenheit die
ewig schönen Typen der alten Welt vor Augen zu haben, nicht aber sich im Zerstören der herrlichen
Werke zu üben, wie es Vandalen nur geziemen könnte. Und wenn von unsern Universitäten erst wieder
dies Streben ausgehn wird ; wenn man nicht mehr üben wird, an den schönsten Werken des Altertums eine
dilettantische Kritik in Aasfübrang za bringen : dann wird ein festes Bollwerk gegen den alles öberäntenden
Materialismas gewonnen werden; dann werden der Staat und die Religion ihre wohlgerösteten Kämpen
empfangen, die ihnen verhelfen können zum Siege über die finstern Mächte der Nacht, die auflösenden
Kräfte, die nichts nebr bestehen lassen wollen ausser der Willkür des Einzelnen and der glänzenden
Redewendung.
Und die klassischen Wissenschaften müssen sich rüsten, diesen Kampf aufzunehmen. Sie müssen
sich mit fruchtbaren urd der höheren Bildung dienenden Aufgaben beschäftigen, nicht aber die gelehrte
Finsternis wieder herbeirufen durch so klägliche Änderungen, wodurch man die Texte der alten Schrift-
steller jetzt immer schwerer lesbar macht. Ich meine z. B. dass man i und j, ebenso u und v wieder
gleich schreibt, dass man eine allen Sinn verdunkelnde, ein Lesen mit Gefühl fast unmöglich machende
Interpunktion einführt; und ebenso die Dehnungszeichen, durch welche so mancher Satz auf den Fleck
verständlich wird, abgeschafft hat u. s. w., u. s. w.
Möge man wieder zu dem wahren Urquell der klassischen Zeit, zu Homer zurückkommen; mit
heiliger Erfurcht seine Gedichte ergründen, und sie nicht missbrauchen zu einer ganz fruchtlosen Afterkritik.
So wird die heranwachsende Jagen d wieder eine höhere geistige Weihe erhalten ; die klassische Philologie
aber wird vor dem gänzlichen Verfalle bewahrt werden, der sie bald von der Bildfläche der Unterrichts-
gegenstände wegfegen würde. — Wenn ich diesen oder jenen in dieser Richtung geweckt haben sollte, so
ist der Zweck dieser Zeilen, die in einem Gusse am heutigen Tage niedergeschrieben wurden, erfüllt.
Hagen i. W., den 15. Januar 1882.
Dr. J. H. Heinr. Schmidt.